Ruhestand  - Wünsche, Aufgaben, Pespektiven

Der Abschied aus einem Berufsleben vollzieht sich individuell unterschiedlich, jedoch beginnt er mit dem inneren Erkennen, manchmal schlagartig, manchmal Monate oder gar Jahre vorher, daß ein gravierender Lebensumbruch ansteht: Ruhestand! Ein unbekanntes Terrain mit viel Ungewißheit, was sich alles ändern wird. Wer wird man sein, wo wird man sich wieder zu Hause fühlen, worin seine Aufgabe sehen? Wie werden Partner, Familie und andere mit einem umgehen? Und dann diese viele freie Zeit, die sich jetzt ‚Freiheit‘ nennt und die irgendwie gestaltet werden will. Vor dem Unbekannten haben Menschen bekanntermaßen Scheu, eine archaische, existentielle Angst. Davor steht ein vielleicht schwer auf dem Gemüt lastender Abschied an. Positive wie weniger positive, hilflose, traurige und wütende Aspekte sind im Rückblick auf ein langes Berufslebens miteinander verwoben. Es ist halt mit dem Ausräumen des Schreibtisches und der Klärung von Rentenbezügen nicht getan.

Bei einer solchen emotionalen Konfrontation reagieren Menschen schnell mit angeborenen Mustern wie Angriff, Flucht oder Totstellen. Diese können sich äußern in Wut oder Groll (gegen Arbeitgeber, die Welt oder sich selbst), in Vermeidungs-verhalten (Fluchtversuche in Aktionismus oder Suchtmittel) oder in Nicht-wahrhaben-wollen, Lähmung und Depression (‚Totstellen‘). Beim Übergang in den Ruhestand trifft dies besonders dann zu, wenn der Ausstieg aus dem Beruf plötzlich und unfreiwillig geschieht, also nicht selbst bestimmt ist, keine langsame innere Vorbereitung möglich ist und dann meist auch keine wertschätzende Abschiedsfeier stattfindet. Dann ist erst einmal ein Schock zu verarbeiten, der mit Ratlosigkeit und Enttäuschung einher geht. Selbst wenn der Ruhestand begrüßt wird, zieht vor dem geistigen Auge ein langes Berufsleben vorbei mit allen Höhen und Tiefen, vielleicht noch ungelösten Konflikten und der Trauer des Abschiedes. 

Für die Wertschätzung einer Person und ihres oft jahrzehntelangen Engagements im Beruf ist eine festliche Abschiedsfeier ungeheuer wichtig (die leider in modernen Zeiten unmodern geworden zu sein scheint). In der Vorbereitung einer Feier und während der Feier selbst intensivieren sich Rückblick, Konfliktklärung und Verabschiedung von Kollegen und Arbeitsplatz, ähnlich der Verbeugung beim Applaus am Ende eines Theaterstücks, kurz bevor der Vorhang fällt. Ist dieser Abschied emotional nicht vollzogen, kommen Menschen über lange Zeit innerlich nicht im neuen Leben an, etwas in ihnen ‚wartet‘ – da muß doch noch etwas passieren! Das Denken ist immer wieder orientiert an und in der Vergangenheit, besonders wenn ‚unerledigte Geschäfte‘ auf der Seele liegen: was nicht erreicht werden konnte, was unausgesprochen und ungeklärt blieb, was vermißt wurde. Der Verlust der vertrauten Kollegen, der erreichten Position und Bedeutung, selbst der damit verbundenen Statussymbole kann schmerzen. Einsamkeit und Selbstwertverlust drohen. 

So folgt dann die zweite, die Orientierungsphase mit ihrem Gefühl von ‚nicht mehr und noch nicht‘. Nach der rückblickenden Berufsbilanz nun eine Lebensbilanz, dann eine Gegenwartsorientierung und dann erst die Suche nach einer wahrhaft neuen Vision. Es gilt, langsam in eine neue Identität und Lebensweise hinein zu wachsen. 

Ruhestand als wichtige aktive Lebensphase betrifft heute beide Geschlechter, doch gehen Männer und Frauen tendenziell unterschiedlich damit um. Frauen scheinen den Übergang im allgemeinen leichter und kreativer zu verarbeiten. Sie haben häufig bereits während der Berufstätigkeit Hobbies und außerberufliche soziale Netzwerke aufgebaut, gehen auch offener an die Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen ‚Lebensdrehbuch‘ heran, besuchen Kurse, lesen Selbsthilfebücher, tauschen sich mit Freundinnen aus und entdecken so schneller neue Inhalte für ihr Leben. Karriere spielte oft für die eigene Identität eine geringere Rolle, Familie und Haushalt sind weiterhin aktive Betätigungsfelder.

Beim Männern sieht die Lage in der Regel anders aus. Gerne stürzen sich frisch gebackene Ruheständler auf die Planung, die schon vor Monaten für die (Schein-)Beruhigung sorgte, doch ganz gut vorbereitet zu sein: das Haus entrümpeln und in Schuß bringen, Besuche machen, eine lang ersehnte Reise unternehmen. In gewohntem Tempo ist dies bald, also nach etwa in 3 Monaten, erledigt. Dann langsam schleicht sich Ratlosigkeit ein, lähmende Leere oder ein Rückfall in gewohnte Alltagsroutinen und Beschäftigungen (jetzt oft auf einem auch finanziell bescheidenen Niveau). Hier schnellt bei Männern die Krankheits- und Sterblichkeitsrate in die Höhe. Die Erkenntnis kommt, daß dies jetzt kein besonders langer Urlaub mehr ist, daß es keine ‚Freizeit‘ mehr gibt – sondern nur noch Zeit. Hier findet ein zweiter Schritt des Aufwachens statt, die Erkenntnis des ‚nie wieder‘ rutscht vom Verstand in das Gefühl herab. 
 
Doch ‚Leere‘ ist nicht leer, sie verdeckt Verborgenes wie eine Nebelwand. Wer diese ‚Aufforderung zum Suchen‘ nicht begreift, schwebt in der Gefahr, sich zurück zu ziehen, Zeit ‚totzuschlagen‘, in Bitterkeit zu erstarren und die ungeheuren Erlebnismöglichkeiten in der neuen Phase ungenutzt zu lassen.  Der Fokus richtet sich dann auch schon mal auf Krankheiten und düstere Themen, die den Menschen um sein Selbstvertrauen bringen und verfrüht in die Phase des Alterns hineinrufen.

Das neue Aufbauen eines 'Ruhestands-Lebensstils' kann sich hinziehen. Denn damit gehen Umbauprozesse in allen Lebensbereichen einher:

  • Tagesabläufe, Zeiterleben und Routinen 
  • soziale Kontakte und Zugehörigkeit zum gewohnten Umfeld 
  • Interessen, Aktivitäten und Lebensträume 
  • Umgang mit Ehe-/Lebenspartner und Familie 

     (Rollenveränderung, Erwartungen an gemeinsame Lebensgestaltung) 

  • Lebenszwischenbilanz und eigene Identität (‚altes Eisen‘ oder ‚alter Hase‘?) 
  • Rolle und Bedeutung  in der Gesellschaft 
  • körperliche und seelische Selbstfürsorge, Bedürfnisse und Belastungsgrenzen 
  • Einstellung zu sich selbst, zum Leben und zum Altern 

 
Hier gehen auch Männer höchst unterschiedlich damit um. 
Vieles hängt von folgenden Faktoren ab: 
 

  • wie lang und durchgehend die Berufstätigkeit war (liegen Erfahrungen mit ‚Auszeiten‘ vor?) 
  • wie viel Raum der Beruf im Leben eines Menschen eingenommen hat und je weniger daher für andere Lebensthemen zur Verfügung stand 
  • wie ermüdet und ‚verbraucht‘ sich ein Mensch nach langer Berufstätigkeit fühlt, wie seine gesundheitliche Situation aussieht
  • wie stark sich ein Mensch mit seinem Beruf identifiziert hat (z. B. Beruf als Berufung, selbst aufgebauter Betrieb) 
  • wie zufrieden ein Mensch mit der erreichten ‚Karriere‘ und der finanziellen Ausgangslage für den Ruhestand ist
  • ob der Ruhestand herbeigesehnt oder erzwungen wurde (z.B. durch Arbeitslosigkeit, Krankheit) und ob noch ein verdeckter Konflikt mit dem letzten Arbeitgeber schwelt 
  • ob ein wertschätzender Abschied möglich war 
  • wie fokussiert die sozialen Kontakte eines Menschen im Berufsfeld lagen und wie viele von ihnen nun verloren sind 
  • wie offen und kompromissbereit sich (Ehe-)Partner mit der veränderten Situation auseinandersetzen, wie experimentierfreudig ein neues gegenseitiges Entdecken und Tun ausprobiert werden
  • wie viel soziale Unterstützung und gute Vorbilder aus dem Freundes- und Kollegenkreis kommen 
  • ob bereits alternative Beschäftigungen wie Hobbies oder soziales Engagement bestehen 
  • wie gerne sich ein Mensch mit neuer Selbstentdeckung und neuen Lebensweisen beschäftigt 


Wenn Sie zwischen diesen Zeilen lesen, finden Sie viele Dreh- und Angelpunkte für Auseinandersetzung und Hilfen - vorausgesetzt Sie sehen Herausforderungen gleichzeitig als Chancen. Das erste Mal seit Jahrzehnten der Fremdbestimmung gehört der Mensch sich selbst. Er kann noch einmal ‚neu anfangen‘, innerlich in die Jugend zurückkehren und den eigenen ‚inneren Jugendlichen‘ mit seinen Träumen dort abholen. Die Überzeugung, daß man für vieles ‚zu alt‘ sei, wäre doch als erster Hemmschuh über Bord zu werfen. Weiterer Ballast kann folgen: 'Das liegt mir nicht', 'das habe ich noch nie versucht', 'was denken die anderen', 'ich mache mich lächerlich' oder 'es gibt keine guten Bedingungen dafür'. Der Ruhestand ist eine neue Wahlmöglichkeit in die Weite, Tiefe und Vielfalt des Lebens hinein. Und rückblickend sagen viele, es sei ihre schönste Zeit geworden.

Neugier und Kreativität, die jetzt gebraucht werden und die jedem Menschen innewohnen, wollen aber erst wieder aktiviert werden, wenn sie vor langer Zeit schon der Routine und einer engen Berufsrolle zum Opfer fielen. Das Zeitgefühl ändert sich massiv über die nächsten Monate - eine Einladung zur tiefen, ehrlichen Selbsterkundung. Schreiben Sie zum Beispiel Tagebuch, widmen Sie sich Achtsamkeitsübungen, besuchen Sie einen Kurs in Biographiearbeit. Die Partnerschaft muss sich erneuern, denn die routinierten Muster funktionieren nicht mehr und neue Zuständigkeiten und Räume für das Miteinander sind abzustecken. Manchmal ist die eingeschlafene Liebe überhaupt erst wieder zu beleben. Ehepartner/innen waren oft ‚funktionalisiert‘ als Berater/in, Helfer/in, Verantwortungsträger/in oder sogar als ‚Blitzableiter‘. Frei von solchem 'Funktionieren müssen' kann auch ein neues Entdecken des anderen von Mensch zu Mensch wie ein leises Wunder geschehen. 

Jede Lebensphase hat ihre eigenen Aufgaben. Zum Ruhestand gehören Klugheit und Weisheit, das Erkennen des Wesentlichen und das Ruhen in sich selbst. Stille und Natur sind nicht nur heilsam, sondern auch anregend. Denn das ewig arbeitende Denken kommt zum Stillstand und aus den Tiefen des Unterbewußtseins können sich Erkenntnisse ins Bewußtsein vorwagen, die das Leben und die Welt aus der ‚Vogelperspektive‘ betrachten. Plötzlich wird wichtig, was vorher Nebensache war, die ‚leisen Töne‘, Genuß mit allen Sinnen, Sensibilität im Umgang mit sich selbst und anderen. Menschen werden aber nicht nur für sich selbst klüger, auch als Vorbilder für andere. In hektischen Zeiten sorgen gelassene ‚alte Hasen‘ (und Hasinnen) für die nötige Ruhe, mit ihrer erprobten Krisenfestigkeit für Zuversicht und für vorausschauende Entscheidungen. Viele finden neuen Lebenssinn in sozialem Engagement, in Kunst, Handwerk und Lesen, in neuem Lernen, im langsamen Reisen oder der Entdeckung des ‚Abenteuers‘ Spiritualität. Bis zum Altwerden ist noch viel zu tun, auch noch einmal jung zu werden und innere Leichtigkeit zu leben.