Loslassen lernen
Leben ist Wandlung – das einzig Stabile im Leben ist überhaupt nur die ewige Wandlung. Jede Minute lassen wir eine andere Minute los, jede Nacht einen Tag. Wir lassen die Jugend los für das Erwachsenenalter, eine Lebenserkenntnis weicht einer neuen. Ohne Wandlung kein Wachstum, keine Reifung. Dieser Prozeß begleitet jedes Leben und nichts kann ihn verhindern.
Dennoch haben wir oft die größten Schwierigkeiten mit dieser größten Selbstverständlichkeit. Denn Wandlung geht zunächst mit Loslassen einher. Der innere Widerstand gegen Veränderung wurzelt in der Sorge, ob denn nach dem Loslassen etwas Neues an diese Stelle rücken wird. Wir haben Loslassen in die Kiste ‚Verlust‘ gesteckt und zittern wir vor dem Loch, das folgen könnte. Die Lösung liegt in dem Vertrauen darauf, ja, dem Wissen darum, daß sich der frei gewordene Platz wieder füllen wird und wir dies mitbestimmen können. Da haben es Menschen mit größerer Lebenserfahrung, die bereits Verluste verschmerzt haben, leichter. Diese Erfahrung, daß dem Leben zu trauen ist, müssen wir vielleicht erst durchleben, um dem Leben zu vertrauen.
Der Text beschreibt die drei Phasen des Loslassens, ihre Aufgaben und den hoffnungsvollen Neubeginn.
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Es ist nicht ‚die Zeit‘, die Wunden heilt, - sie ist nur eine Hülle. Es ist das, was IN der Zeit erlebt wird, was eingeladen, getan oder zugelassen wird, das Löcher wieder füllt. Verharrt ein Mensch in Widerstand gegen das Loslassen, so verhindert er, was zugelassen werden muß, er hält die Tür vor dem lebendigen Leben verschlossen. Da geht es ihm wie jemandem, der Dinge anhäuft bis er keinen Platz mehr im Schrank hat. Die anfangs neuen Dinge werden älter und alt, verlieren an Frische, Bedeutung und Nutzen und werden Ballast. Ihre Zeit ist um, aber sie nehmen Raum ein. Der Mensch bleibt stehen, schaut auf alt und sinnlos Gewordenes und zementiert dies als Inhalte seines Lebens. Loslassen ist die Einladung an das Leben, uns lebendig zu erhalten mit neuen Impulsen, Inhalten und Aufgaben. Es bewahrt uns vor Stillstand, Blockaden und vorschnellem Altern. Wie es Hermann Hesse in seinem wunderbar lebensbejahenden Gedicht "Stufen" beschreibt: "Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen".
Doch warum kann Loslassen so schwierig, schmerzhaft und ängstigend sein? Die Ursachen liegen zum einen im Ablauf: Vor dem Neuen muß erst das Alte weichen. Dadurch entsteht eine Übergangsphase des ‚nicht mehr und noch nicht‘, ein gefühltes ‚Loch‘, das diese Ur-Angst einlädt, es könne vielleicht nichts Gutes mehr folgen. Manche Vorbilder in der Familie, auch eine Haltung der Vermeidung von Auseinandersetzung mit Loslassen und Wandlung in der Kultur führen nicht gerade zu Zuversicht. Loslassen zu sollen oder zu müssen wurde weitgehend der früheren kulturellen Rituale beraubt. Manche religiöse Zeremonie fordert dieses Bewußtsein noch ein (Totensonntag, Ostern, Fasten und Fastenbrechen), doch ist dies in der modernen Ausgestaltung vieler Feiertage verloren gegangen. Loslassen ist heute individualisiert. Wenn wir dazu aufgefordert werden, fühlen wir uns oft schlicht ratlos und überfordert angesichts der manchmal komplexen Verarbeitungsschritte. Daher funktioniert der an sich kluge Rat ‚Du musst loslassen!‘ selten. Wenn wir nur wüßten wie!
Mancher sucht sein Heil im schnellen Ersetzen, im Füllen des gefühlten Lochs mit irgend etwas, um nur Abschied, Trauer und innere Versenkung zur Besinnung zu vermeiden. Denn das Betrauern tut weh. Selbst wenn wir nur den Keller entrümpeln, begegnen uns ganze Pakete von darin gespeicherten Gefühlen: Es sind Erinnerungsgefühle (keine aktuellen) aus noch nicht verabschiedeten Zeiten und Szenen unseres Lebens. Die Wandlungsaufgabe wurde in den Keller verschoben, nicht gelöst – und so wird sie wieder auftauchen.
Wie macht es die Schlange, die sich häutet? Sie spürt, wann die Zeit zur Häutung gekommen ist und sucht sich einen ruhigen, sicheren Ort für ihren Wandlungsprozeß, denn sie wird verletzbar sein. Mit Anstrengung und Geduld windet sie sich langsam aus der alten Haut und gibt der nun neuen Haut Zeit zum Trocknen, um stabil und robust zu werden. In dieser Zeit sucht sie keine Nahrung und lebt von Reserven, bis sie wieder, jetzt größer geworden, für ihre ‚Alltagsgeschäfte‘ bereit ist. Ein verletzter Hund zieht sich ebenfalls zurück, leckt seine Wunden (Reinigung und Impuls zur Heilung), frißt nicht, beteiligt sich nicht an Aktivitäten und wird dabei etwas abmagern – auch das Fasten kann ein Reinigungsprozeß sein, der uns keineswegs schwächt, sondern klärt und von Ballast befreit.
Loslassen ist also ein Drei-Phasen-Prozeß
Phase 1 beginnt mit der Erkenntnis, daß Loslassen erforderlich ist, weil etwas oder ein geliebter Mensch uns verloren ging, eine Aufgabe abgeschlossen, eine Lebensphase vorbei ist oder weil sich ‚Ballast‘ angehäuft hat, der zur Last wurde. Häufig ist dies zunächst mit einem Schock verbunden. Dann reagieren wir spontan mit einem ‚Nein!‘ Dieses zu überwinden wird erleichtert durch das Mitgefühl und die Unterstützung anderer Menschen. Der Rückzug in Stille und Besinnung ist zeitweise notwendig, um sich den Aufgaben des Loslassens und der anschließenden Neuorientierung voll widmen zu können. Ablenkung und ‚Ermunterung‘ sind nur sinnvoll, um zunächst die Überzeugung zu festigen ‚Ich lebe ja weiter!‘ als Gegengewicht zu einem vielleicht überbordenden Gefühl von Auflösung.
In Phase 2 liegt die Hauptaufgabe darin, zu sichten, was als kostbare, wichtige ‚Essenz‘ aus dem, was loslassen werden soll oder muß, bei uns bleiben darf. Es können wunderschöne Erinnerungen sein, wertvolle Erfahrungen in einer Lebensphase oder wichtige Erkenntnisse. Aus einem Schaden zu lernen holt den guten Kern in ihm heraus. Lassen wir einen geliebten Menschen los, so bleibt ein Teil von ihm in uns lebendig. Häufig übernehmen wir einen Impuls oder eine Aufgabe von ihm, führen etwas weiter, daß er uns hinterlassen hat und behalten Erinnerungsstücke, die nun eine neue Verwendung finden. Was nicht mehr bleiben kann oder keinen neuen Platz findet muß betrauert werden. Dies erzeugt eine seelische Wunde, die erst durch Trauern (‚Wunden lecken‘) heilen kann – und muß. Nicht geheilte Verletzungen schwächen und begrenzen spätere Lebensspielräume. Sie machen sozusagen ‚berührungsempfindlich‘ und verleiten zur Vermeidung von allem, was sie berühren könnte. Wenn ein schwerer Verlust zu betrauern war, kommt die Fähigkeit zur Freude eher zaghaft zurück, wie der Frühling nach einem langen Winter. Schwankungen sind normal, manches aus Phase 2 kann noch einmal auftauchen und Nachbetrauern oder Klärung erfordern. Psychotherapie, Selbsthilfgruppen oder auch Abschiedszeremonien können sinnvoll sein, um den Erkennen der ‚Essenz‘ vergangener Erfahrungen und Beziehungen und der Trauerarbeit Raum zu geben (mehr zu Abschiedszeremonien finden Sie zum Beispiel im Text „Therapeutische Zeremonien“).
Das Ende von Phase 2 und der Beginn von Phase 3 sind fühlbar. Wer schon einmal ein altes Haus ausgeräumt hat, der kennt diesen Stimmungsmix aus Klarheit, Dankbarkeit, Erleichterung und Ruhe nach den langen Stunden, Tagen, Wochen, in denen gekramt, gesichtet, erinnert, geschmunzelt oder geweint, weggelegt und erneut abgewogen, am Ende weggebracht oder frisch geputzt wurde, was einen neuen Platz bekommen soll, bis sich langsam Kiste um Kiste, Raum und Raum leeren.
Neue Kraft und Neugier durchströmen uns, die Lebensgeister sind erwacht und wollen in Aktion gehen. Frische Erfahrungen und andere Inhalte sind eingeladen, allerdings mit Bedacht und ohne Eile – wir haben gelernt. Alte Fehler sollen sich nicht wiederholen, neue Vorstellungen brauchen auch neue Informationen und Spielräume. Ein Aufbauprozeß kann nur schrittweise erfolgen. Es wird probiert und getestet, wieder aufgegeben und gesucht, so wie nach einem Umzug frischer Wind einkehren kann mit neuem Stil und moderner Einrichtung, die sich mit den alten Dingen mischt. Es wird noch öfter umgestellt – Einrichtung ist auch ein Prozeß. Vertrauen wir auf die Selbstheilungskräfte unserer Psyche. Wenn wir sie in ihrem eigenen Rhythmus arbeiten lassen, findet sie ihren Weg ‚vom Phoenix durch die Asche zum neuen Phoenix‘. Der Prozeß ist abgeschlossen, wenn wir ohne Gram zurückschauen können. „Ein Leben kann gefüllt sein trotz vieler unerfüllter Wünsche“ (Resümee einer Patientin).
Menschen mit einer spirituellen (oder religiösen) Überzeugung haben es leichter mit dem Loslassen. Sie sind überzeugt von Sinn und Unsterblichkeit der ‚Essenz‘, vielleicht sogar Wiederbegegnung. So lese ich auch den Text von Rainer Maria Rilke heute neu:
„Man muß nie verzweifeln, wenn einem etwas verloren geht, ein Mensch oder eine Freude oder ein Glück; es kommt alles noch herrlicher wieder. Was abfallen muß, fällt ab; was zu uns gehört, bleibt bei uns, denn es geht alles nach Gesetzen vor sich, die größer als unsere Einsicht sind und mit denen wir nur scheinbar im Widerspruch stehen. Man muß in sich selber leben und an das ganze Leben denken, an all seine Millionen Weiten, Möglichkeiten und Zukünfte, dem gegenüber es nichts Vergangenes und Verlorenes gibt.“
Text