Die Kraft im Verbundensein
Ein Leben ist so erfüllt, wie wir in Verbindung gehen. Und es ist so verbunden wie wir es zulassen - nicht weil es in unserem direkten Umfeld oder der Welt kein ‚Angebot‘ gäbe. Doch gehört Un-Verbundensein zur Alltagsnormalität vieler Menschen. Ist erst einmal die innere Tür geschlossen, werden wir zu ‚Zuschauern‘ im emotionalen Spiel des Lebens. Wir stehen hungrig vor einem reichen Gabentisch mit einer unsichtbaren Glaswand davor. Lebenszeit ohne innere Fülle bringt wenig Satt-sein und am Ende wenig Satt-geworden-sein vom Leben. Verbundensein heißt Energiefluß, egal in welcher Form: Liebe, Wertschätzung, gesehen werden, gegenseitige Unterstützung, sich heimisch fühlen, Erfahrungen machen, Bedeutung haben, Mitbestimmen. Die Qualität von Verbundensein, d. h. die emotionale Intensität, macht den ‚Nährwert‘ von Erlebnissen aus, nicht die Quantität vieler Schein-Verbundenheiten. Sogar unangenehme Erfahrungen sind oft ‚reich‘ an Verbundenheit. Besser dies als gar nichts zu erleben - so zeigen sich manche Partnerschaften, die sich trotz ewiger Streitereien nicht auflösen und manche Familien, in denen man am Ende doch 'zusammen steht'.
Menschen werden als 'Verbindungskünstler*innen‘ geboren – vom ersten Atemzug an nimmt das Baby Kontakt mit seiner neuen Umgebung auf, zeigt sich offen und empfangsbereit. An das Un-Verbundensein dagegen muss es sich erst mühsam gewöhnen, es entgegen seiner Bedürfnisse als die offensichtliche Normalität erlernen. Misstrauen, Rückzug nach innen oder Gleichgültigkeit gehören nicht zum angeborenen Repertoire.
Als Ursache qualvollen seelischen Un-Verbundenseins erleben Kinder ihre unverbundenen Eltern, auch wenn sie mit materiellen Gütern überhäuft werden. Unverbundene Eltern ‚fühlen‘ ihre Kinder nicht, sondern betrachten sie als von sich getrennte ‚Subjekte‘, die ernährt, unterhalten und ‚erzogen‘ werden. Doch Kinder lassen sich in dieser Hinsicht nicht täuschen. Ihre Intuition ist wach und leidet unter dem, was sie spüren. Einsamkeit, Selbstzweifel oder hilflose Wut sind Folgen, häufig werden sie in psychosomatischen Krankheiten und Verhaltensauffälligkeiten ausgedrückt. Genauso spüren sie Un-Verbundensein zwischen den Erwachsenen, ihren Eltern und den Großeltern, im Kontakt mit Lehrern oder Betreuern, in der kalten Anonymität von Großstädten. Auf dem Land kennt häufig noch jeder jeden, Tiere und Natur bieten lebhafte Verbindungen an, die ausgleichend wirkt für das, was woanders vielleicht fehlt.
Auch diese Erwachsenen waren einmal Kinder und lernten, dass Un-Verbundensein wohl zum Erwachsensein dazu gehöre.
Oder sie wurden früh mit unverdaubaren Erfahrungen konfrontiert, wie sie mehrere Generationen von 'Kriegskindern' erlitten, die nur durch emotionale Abspaltung von der Umwelt und den Geschehnissen um sie herum ein Stück heiles Innenleben bewahren konnten. Emotionaler Abstand zu seinen Gefühlen, zum eigenen Körper, zu Mitmenschen, zur Gesellschaft, zu den Bedrohungen des Lebens scheint ‚sicherer‘ – um den Preis, dass das Leben von innen her leer wird. Unbeteiligtsein wird fortan hinter sozialer Maskerade oder Rationalität versteckt, das Leben 'ist halt so'.
Und in der modernen Zeit bieten 'social media' eine Art schnellen und einfachen Ersatz. Bunte Bilder und eine Quantität von sogenannten 'Freunden' und 'Followern' suchen wett zu machen, was an wirklicher Begegnung fehlt. Anders herum gedacht zerstört der Hype manche vorher lebendige Beziehung, wie Eltern von Teenagern beklagen, die nur noch auf ihr Smartphone fixiert sind. Es geht in der Psyche nicht um Schuld – alles hat Ursachen und Logik. Es geht um Aufwachen, Erkennen und neues Öffnen.
Denn Un-Verbundensein hat ungeheure Auswirkungen. Es ist der Boden, auf dem viele Störungen wuchern: Un-Verbundensein mit dem eigenen Ich (das fremd erscheint und deshalb von einem gierigen Ego ersetzt wurde), mit dem Tätigsein (das zu Pflichtausübung oder Geldverdienen verkümmert), mit dem eigenen Körper (der nurmehr Werkzeug und schöne Hülle sein darf), mit den eigenen Gefühlen (die stören, nicht begriffen und nicht gehört werden), mit den nicht gelebten Potentialen der Persönlichkeit (die als Wahlmöglichkeiten nicht mehr zur Entfaltung kommen ). Un-Verbundensein mit dem nächsten Mitmenschen lässt Misstrauen und Berechnung spriessen, wo Vertrauen und Kooperation Freude und Zuhause-Gefühl ermöglichen könnten. Un-Verbundensein mit seinem eigenen Leben lässt es zu einer Aneinanderreihung gesichtsloser Zeitabschnitte veröden. Das Nicht-spüren des eigenen, auch spirituellen Selbst führt am Ende zum Erleben von Sinnlosigkeit und Angst vor Alter und Tod.
Un-Verbundensein mit der Welt entseelt die Schöpfung und erklärt sie zum blossen Ressourcen-Lieferanten für immer mehr Konsum. Das Ergebnis sehen wir überall in der Welt, doch wir schieben unsere Betroffenheit weg mit der Illusion, 'die Wissenschaftler' oder 'die Politik', auf jeden Fall die jeweils Anderen würden es schon retten. Auch Missbrauch von Schwächeren und Betrug am Mitmenschen gedeihen nur auf diesem Boden. Rüstungs- und Müllexport-Geschäfte, rücksichtslose Bankenwirtschaft und aggressive Verkaufstaktiken, Kriege und Kriegsgeschäfte setzen Un-Verbundensein geradezu voraus. Und sie zerstören bestehende Verbundenheit anderer, die wie zum Beispiel indigene Völker - mit ihrer natürlichen Umwelt meist noch sehr verbunden – ‚ökonomischen Interessen‘ zu weichen haben.
Auch in unserem eigenen Leben sind die Spuren sichtbar: Wenn Arbeit unpersönlich wird und als ‚Pflicht‘ oder reiner ‚Gelderwerb‘ über den Rechten des Ichs steht, wird sie zerstörerisch. Sie reduziert nicht nur die Entfaltung in anderen Lebensbereichen, sie degradiert einen Menschen zum Sklaven: ‚Leben um zu arbeiten‘. Dann wird der Mangel schnell mit Konsum ersatzbefriedigt - ohne befriedigend zu sein. Auf solcher Täuschung wuchert eine ganze Webeindustrie: Wenn du erst x gekauft hast, dann macht dich das satt, liebenswert, zufrieden, sicher, glücklich …. Sattsein im Sinne psychischer Bedürfnisse geschieht niemals über Ware oder blinden Aktionismus, nur über Erleben.
Als Signal lehrt uns Un-Verbundensein, dass jemand aus der nährenden Verbindung mit sich selbst, mit anderen Menschen und der Welt herausgefallen ist. Er sitzt in seinem vielleicht ‚goldenen Käfig‘, jedoch einsam, gefangen und vertröstet. Diese Art Ego-Kultur ist nicht zu verwechseln mit Individualität. Diese kann in einem hohen Maß mit Verbunden-sein einher gehen.
Wenn wir Un-Verbundensein erkennen und wieder neue Verbundenheit wachsen lassen, lösen wir Blockaden im Energiefluss auf und die ursprüngliche Lebendigkeit kehrt zurück – wie ein innerer Frühling. Es kann sich anfühlen wie 'verliebt sein in das Leben'. Lebendigsein kommt aus emotionalem Geben und Nehmen, ein besonderer, nicht ersetzbarer ‚Energieaustausch‘. Daraus entspringen wieder Mut, Lebensfreude und neuen Zukunftsvisionen, sogar körperliche Gesundheit.
Die erste und zentralste Verbindung eines Menschen ist die zu sich selbst. In seinem sprudelnden Ich findet er seine wichtigste Energiequelle. Er schöpft aus sich selbst, wie wir bei jedem spielenden Kind oder im eigenen schöpferischen ‚flow‘ erleben können. Ego-Bedürfnisse, die - weil in sich leer und künstlich erzeugt – nie ‚satt‘ machen können, erzeugen dagegen Gier. Im Moment, in dem 'echte Gefühle' ersetzt werden durch sogenannte Güter ('Weihnachts-Wunschzettel') oder ‚action‘ (höher-schneller-weiter), verkümmert die Psyche, verdorrt und erschöpft sich leise. So schreit der emotional verhungernde Mensch ständig nach neuem Futter und versucht es hoffnungslos-verzweifelt über ‚mehr desselben‘ - doch vom Falschen (Kauf-Rausch, Ess-Rausch, Aktionismus-Rausch, Celebrity-Rausch). Manche (moderne) Krankheit hat hier eine ihre Wurzeln: Sucht, Angst, Depression, Burnout. Und genau hier, verborgen im Inneren eines jeden Individuums - liegt der erste Schlüssel zur Lösung.
Den Zugang zu uns selbst (dem Ich) finden wir wieder in der Stille, im In-sich-hineinhorchen und im Spüren des Körpers ‚von innen‘. Dies erklärt den Siegeszug der Achtsamkeitswelle, die (vielseitig wie sie ist) auch ein Weg zu neuer Verbundenheit sein kann. Wenn wir dem Dialog mit uns selbst wieder Raum geben, lernen wir die ‚Innere Stimme‘ zu hören, unsere vertrauenswürdigste Ratgeberin, denn sie schöpft aus dem Unterbewusstsein (das unter anderem über 95 % unserer Wahrnehmungen und Verarbeitungsprozesse ausmacht) und nicht aus dem begrenzen Denken (das wie eine kleine Bücherei nur auf einen vorhandenen Bestand zurück greifen kann).
Ein zweiter Schlüssel liegt in einer neuen Öffnung für die Umwelt. Menschen ziehen im Laufe ihres Aufwachsens einen Zaun um ihr Innenleben. Jeder Mensch benötigt Raum für seine Individualität. Ist der Zaun nicht (mehr) gesichert, fühlt sich ein Mensch zu recht ungeschützt. Manche haben jedoch den Zaun unüberwindbar hochgezogen. Er blockiert den echten emotionalen Austausch bis in eine Isolation hinein. Verbunden-sein ermöglicht auch die ‚Umfahrung von Blockaden‘, wie sie nach Unfällen, Krankheiten oder Gewalterfahrungen, in denen Menschen Ohnmacht erlebt und Gestaltungsspielräume verloren haben, häufig auftreten. Schicksalsschläge ähneln oft Bulldozern, die Zäune einreißen und innere Gärten platt walzen. Da bleibt oft erst einmal nur der entsetzte Rückzug ins tiefste Innere.
Wer die Aufforderung begreift, seinen Zaun einerseits zu reparieren, andererseits nun Türchen einzubauen und Mitmenschen und Natur zum Besuch einzuladen, für den wird daraus eine erfüllte neue Phase im Leben. Die ja tatsächlich vorhandene Fülle des Lebens bekommt Erlaubnis einzutreten, vielleicht sogar mehr als zuvor. Gäste bringen immer etwas mit: Freude, Bestätigung, Zuneigung, Erfahrungen und neue Ideen. Jede und jeder ist letztlich eine Lehrerin, ein Lehrer für andere - wenn wir es erlauben. Türchen sind zum Auf- und Zumachen da, nicht wahllos vertrauend, nicht pauschal misstrauend. Menschen nach solchen Erfahrungen sind feinsinniger geworden, bewusster, wertschätzender. Sie schauen nicht weg, sie nehmen wahr, sind in Kontakt und spüren auch die Verantwortung für ihr Inneres wie für ihre Umgebung.
Letztlich ist JEDER Zugang hilfreich, solange er nur seelische Verbindung und damit innere Erlebnisse erschafft: Sich neu verlieben, Genussübungen mit allen Sinnen, intensives Wahrnehmen des eigenen Körpers in Sport, Kreativität in Spiel und Kunst, Naturerfahrungen und Reisen, Begeisterung für ein Projekt oder eine Gruppe oder tiefe spirituelle Erfahrung. Selbst im Kino zu weinen oder sich heftig zu streiten, sich beim Umzug Muskelkater einzufangen oder den Keller zu entrümpeln kann wieder verbinden - zumindest mit den eigenen Gefühlen. Menschen in Seniorenheimen leben auf durch Haustiere, andere holt eine soziale Aufgabe aus ihrer Isolation und gibt Ihnen neue Bedeutung.
Das neue Zulassen von Verbundensein mag sich anfangs anfühlen wie 'Auftauen' - und das bedeutet es auch. Das eingefrorene Ich nimmt wieder vorsichtig Kontakt auf. Sanft und in kleinen Schritten ist der Weg nach jedem 'inneren Winter', auch Selbstvertrauen und Feinheit in der Wahrnehmung wollen erst wieder wachsen. Und manches vertraute alte Gefühl tritt an die Oberfläche - wir sind wieder 'berührbar' im wahrsten Sinne des Wortes. Lassen wir uns Zeit - so wie die Natur im Frühling - so können wir auch das Auf und Ab in der Übergangsphase besser tolerieren.
Im Sommer unseres aufgeblühten Ich's dann werden Beziehungen innig und wahrhaftig, Arbeit wird ein lebendiger Teil des Lebens und der Körper 'das Haus in dem wir wohnen'. Durch die neue Verbindung zwischen Innen und Außen, Arbeit und Freizeit, eigenen Bedürfnissen und denen der Anderen bleiben wir in Balance. Der moderne Begriff 'Work-Life-Balance' transportiert diese Idee – viel mehr als die simple Frage nach ausgewogenem ‚Zeitmanagement‘. Jede Einseitigkeit gibt dem Einen, nimmt dafür Anderem etwas weg. ‚Monokulturen‘ sind fade und artenarm, erschöpfen einseitig ihre Ressourcen und sind daher störanfällig. Wie dem Wald geht es auch der Psyche: je vielseitiger, desto stabiler, fruchtbarer und lebendiger. Viele so verbundene lebendige Menschen können Wellen auslösen. Und Wellen können Weltpolitik verändern.