Die Bremer Stadtmusikanten - eine Selbsthilfegruppe 

Die Geschichte beginnt eigentlich am Ende: Vier  Tiere, die sich zunächst keinesfalls als Helden präsentieren, eher als jämmerliche Gestalten, totgeweiht und verzagt. Ihr Leben stand bisher unter dem Stern von Fremdbestimmung und Eintönigkeit. Die Entscheidung ihrer ‚Besitzer‘ setzt nun eine Zäsur: Der Lebensfluß soll gestoppt, sie sollen verjagt, erschlagen, ertränkt oder geschlachtet werden. Doch statt sich in das von anderen bestimmte Schicksal zu geben, mobilisieren sie Kräfte für eine Vision und geben damit dem Märchen eine erste erstaunliche Wende: Sie wollen Musikanten in Bremen werden (damals eine recht reiche Stadt, die sich sogar hauptberufliche Musikanten leistete).
 
Wie in Märchen üblich haben Tiere auch in diesem menschliche Denk- und Verhaltensweisen und sogar tiefe Gefühle. Die Vier wirken recht sympathisch und erwecken zunächst Mitgefühl, später auch Respekt, so daß es leicht fällt, sich mit ihnen zu identifizieren. Ihre Gegenspieler sind dagegen Menschen, die berechnend, kalt, undankbar, heimtückisch und grausam auftreten. 

 
Der Esel wird nach einem langen arbeitsreichen Leben auf dem Bauernhof nun ein Opfer des Geizes seines Dienstherrn, er wird also quasi ‚entlassen‘. Wir assoziieren den Esel häufig mit Störrigkeit und Eigensinn. Er ist jedoch ein genügsames Herdentier mit feinen und wachen Sinnen, das Gefahren rechtzeitig erkennt und sorgsam seine Hufe setzt, dabei auf seine Intuition vertrauend. So durchschaut der Esel rechtzeitig die neue Lage und entwickelt einen Plan: Er will in die reiche Stadt Bremen wandern und dort seinen Gefühlen im Spiel der Laute Ausdruck verleihen. In der Mythologie steht der Laute spielende Esel für Sinnlichkeit, auch für Lüsternheit, Fruchtbarkeit und Umtriebigkeit. Jesus reitet auf einer Eselin – womit die instinktiven Neigungen gezügelt erscheinen und der Esel zum Träger von Licht und Heil wird. In diesem Märchen strebt er nach Harmonie und Gemeinschaft und stellt sich als Tragtier den neuen Freunden zur Verfügung, die auf ihn bauen können. Er, der für dumpfbackig gehalten werden könnte nach den ersten Sätzen, erweist sich jedoch als Visionär, als kreativer Kopf, mit der Fähigkeit ausgestattet, andere von seiner mutigen Idee eines Neuanfangs zu überzeugen.
 
Der Hund gilt seit alters her als treuester Diener und Freund des Menschen. Er ist es gewohnt zu gehorchen und seine ihm innewohnende Lebenskraft zum Wohl anderer einzusetzen: als Jagd-, Hof- oder Hütehund. Als Beschützer und Familienmitglied zeigt er sich liebevoll und loyal in seinem Sozialverband, kann jedoch gegen Feinde und bei der Futterbeschaffung höchst aggressiv werden. In der alten Mythologie (Ägypten, Griechenland) bewacht der Hund den Eingang ins Totenreich.
 
Die Katze als einziges weibliches Tier symbolisiert weibliche Aspekte wie Zärtlichkeit, Schmusen, Umgarnen, Undurchschaubarkeit, aber auch gute Mutterinstinkte und Reinlichkeit (In Vietnam, wo Katzen gegessen werden, gibt es immer wieder Ratten- und Mäuseplagen, die zur Verbreitung von Krankheiten führen). Die Katze steht für Empfindungsreichtum, aber auch für ungebändigte Sexualität und Triebhaftigkeit. Hexen wurden oft nachgesagt, die Gestalt einer Katze anzunehmen (das Wort ‚Ketzer‘ kommt von Katze). Im alten Ägypten galt die Katze als heilig, in der indischen Mythologie reitet die Große Göttin auf einer Katze. Und Freya, die germanische Göttin der Liebe und Ehe, läßt ihren Wagen von einem Katzengespann ziehen.
 
Der Hahn, das Vogeltier in diesem Märchen, sorgt auf einem Hof für die Einhaltung hierarchischer Strukturen. Er steht für Stolz, Eleganz und Herrschaft – seine Streitlust wird heute noch in Hahnenkämpfen genutzt. Obwohl es mit dem Fliegen nicht weit her ist bevorzugt er hohe Plätze zum Sitzen für den guten Überblick. Er verkündet den Beginn des Tages und damit die Wiederkehr des Lichtes. Sein Krähen ist auch ein Appell an das Gewissen (wie bei Petrus), er steht für Fernsicht und die Vertreibung von Dämonen. Entsprechend entdeckt er im Märchen den Lichtschein weit entfernt im Wald und damit den Wink des Schicksals. Bei den Germanen war der Hahn der Grenzwächter zwischen Diesseits und Jenseits und der Künder des neuen Bewußtseins.
 
Alle 4 Tiere sind mythologisch Schwellentiere – sie repräsentieren den Übergang vom Hier zum Dort.   
Die Zahl 4 steht für 4 Elemente, 4 Himmelsrichtungen, 4 Jahreszeiten, 4 Funktionen: Denken (Hahn), Fühlen (Katze), Handeln (Hund) und Intuition (Esel). Erst zusammen genommen statten sie uns mit vollen Möglichkeiten aus.
 
Dazu benutzen die 4 Tiere die Kraft der Pyramide (Synergieeffekt, Satz des Phytagoras) und der Musik. Musik als universales Kommunikationsmittel kann Harmonie und Nähe erzeugen, aber auch als laute Musik bei vielen Naturvölkern Geister und Dämonen vertreiben. Von unseren schamanischen Wurzeln stammen noch die Knaller zu Silvester.
 
Der Wald wird im Märchen mit dem Unterbewußtsein in Verbindung gebracht, im positiven Sinne als Zufluchtsort, der zu Ruhe und Besinnung kommen läßt, im dunklen Sinne als Ort der Konfrontation mit dem eigenen „Schatten“, den unbewältigten Konflikten, Ängsten und anderen unerwünschten Anteilen in der eigenen Persönlichkeit und Lebensgeschichte.   
 
Die Räuber stehen zunächst einmal für die sieben Todsünden der christlichen Religion, die zum Hinausfallen aus der göttlichen Gnade führen: Hochmut, Geiz, Wollust, Jähzorn, Völlerei, Neid und Faulheit. Darüber hinaus symbolisieren sie Egoismus, Gewissenlosigkeit, Regellosigkeit und Ungebundensein. Menschliche Gesellschaften gefährden sie mit Siechtum und Zerstörung von Beziehungen. Die Räuber signalisieren damit den unterwünschten, gefürchteten, daher aus dem Bewußtsein abgespaltenen und ins Unterbewußtsein verdrängten Anteil unseres Strebens und Handelns. Diese Verdrängung ins Unterbewußtsein ist ein uns allen innewohnender Mechanismus, der Häßliches, Schmerzhaftes und moralisch Verpöntes aus dem Blick entfernen soll, damit wir uns ‘besser‘ fühlen. Überstreng moralisch erzogene Menschen sympathisieren daher oft heimlich mit Räubern und verbinden mit ihnen Mut, Rebellion, Freiheit und das ungebremste Ausleben materieller Bedürfnisse. Auch Gesellschaften betreiben Verdrängung. Ähnlich wie Hexen, Bettler, Prostituierte scheint manche unterdrückte Volksgruppe wie ein ‚Schatten‘,  so gefährlich für die ‚gute Ordnung‘, daß sie in den Untergrund gedrängt werden muß. Unintegriert und unbeobachtet kann sie jedoch subversiv aus diesem Untergrund heraus agieren und stellt mit ihren Sabotageakten die Scheinheiligkeit der ‚Rechtschaffenen‘ bloß.
 
Taucht der ‚Schatten‘ in unserem Leben als Krankheit oder Mißgeschick auf, so verbirgt sich dahinter ein noch ungelöster Konflikt, der auf ‚Erlösung‘ wartet. Alte Brandherde schwelen weiter und entzünden sich immer wieder an neuen Themen, ziehen Kettenreaktionen nach sich und können sich zu einem ‚Flächenbrand‘ ausdehnen. So vehement drängt das Dunkle unseres Innenlebens an die Oberfläche, um gesehen, geachtet und gelöst zu werden. Denn wir sind gleichzeitig Licht und Dunkelheit und die (Er-)Lösung kann nur darin liegen, zu erkennen, anzuerkennen und zuletzt Licht und Dunkel ineinander zu integrieren.
 
Die vier Tiere vertreiben die Räuber nun aus dem Schatten – anders ausgedrückt: die Inhalte des Unbewußten zurück ins Bewußtsein. Doch was unseren 4 Helden zunächst so leicht zufällt, hält nicht lang vor. Einer der Räuber kehrt zurück und stellt sie noch einmal auf die Probe. Sie müssen sich erneut und nun jeder einzeln noch einmal bewähren, bevor endgültig Ruhe einkehrt.
 
Der zurückkehrende Räuber zeigt uns noch einen Zusammenhang auf. Er hat Angst und erwartet Schreckliches, er hat ein schlechtes Gewissen und befürchtet Strafe. Und er bekommt im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung genau das Erwartete: ein unbesiegbares Monster (Katze), einen Messerstich (Hund), einen Hieb mit der Keule (Esel) und zuletzt einen ermahnenden Richterspruch (Hahn). Eine gute und berechtigte Absicht stärkt, eine selbst als unethisch eingestufte Absicht schwächt.
 
Ein möglichjes Fazit

1. Wir brauchen für eine sinnvolle Wende in unserem Leben oft einen Auslöser, ein deutliches Signal, ja einen richtigen Schock, der uns wach rüttelt und der den bisherigen Weg verschließt, so daß wir nicht mehr ausweichen können und all unsere Kräfte mobilisieren müssen. Neue Energie beginnt zu fließen mit dem Entschluß zu kämpfen. Dies reicht, um eine Wandlung einzuleiten.
 
2. Was als Schock, als Katastrophe begann, entpuppt ich später oft als Segen.
 
3. Wir brauchen eine Vision, die alle Bewegungen in die Richtung eines Ziels lenkt und uns motiviert. Sind wir zu ‚satt‘, lauert Bequemlichkeit. Sind wir zu furchtsam und ungläubig, fallen wir in Pessimismus und Lethargie.
 
4. Gleiches Schicksal läßt Menschen zusammenrücken. In der Kooperation werden die Unterschiede zugunsten gemeinsamer Ziele zurückgestellt. Die Tiere im Märchen beginnen zu kooperieren und auf eine Reise zu gehen. Daraus ergibt sich, wie bei einer guten Partnerschaft, ein Synergie-Effekt: 1+ 1 = 3. Nur zusammen schaffen wir, was allein nicht gelingt. Darin liegt die Kraft einer aktiven Selbsthilfegruppe.
 
5. Wir müssen auf (geistige) Wanderschaft gehen und unser Unterbewußtsein durchstreifen wie die Tiere im Märchen den dunklen Wald. Unser ‚Bremen‘ liegt auch nicht um die Ecke, ja es ist zu Anfang oft nicht einmal erkennbar. Wenn wir die dunklen Anteile in uns, die ungewollten, gefürchteten und deshalb verdrängten Seiten unserer Persönlichkeit, und die ungelösten Konflikte unseres Lebens in unser Bewußtsein hinein rufen, verlieren sie ihren Schrecken und werden auflösbar, bis sie zuletzt ‚integriert‘ sind als unsere ‚guten und schlechten Seiten‘, die wir steuern und in Einklang bringen können. Es geht um das um das Ganzwerden, indem wir sie in unser Denken, Fühlen und Handeln einbeziehen.
 
6. Wir brauchen Gelegenheiten, unseren Mut zu beweisen und zu kämpfen, um unsere versteckten Potentiale in der Aktion zu erleben. Wir sind viel stärker und kreativer als wir jemals dachten!
 
7. Doch Vorsicht: Was wir insgeheim glauben, wird für uns auch äußerlich wahr. Es bestimmt unsere Entscheidungen, unsere Handlungskraft und damit den Ausgang einer Herausforderung.  Im Märchen fällt der zurückkehrende Räuber auf seinen eigenen Glauben hinein, Urteil und Strafe zu verdienen. Und die anderen Räuber glauben wiederum ihm. Hätten sie sich nicht entmutigen lassen und noch einmal geprüft, hätten sie leicht den Sieg davontragen können. Wer nicht an sich selbst glaubt und sich keine Chance gibt, hat es schwer, alte Muster zu verlassen und neue Wege zu beschreiten.
 
8. Die Räuber, die ‚Schatten‘, sind nicht mit einer Anstrengung schon verjagt und vergangen. Wenn wir siegesgewiß schlafen, kommen sie zurück und überraschen uns von hinten. In jedem Rückfall in alte Muster steckt eine noch nicht gelöste Aufgabe, Heilung ist ein Weg, ein längerer Prozeß, kein einmaliger Akt.
 
9. Die Tiere beginnen ihr Abenteuer mit einem großartigen Plan: Sie wollen Musiker in Bremen zu werden. Ein anfänglicher Traum verhilft uns zu Mut und einem Energieschub, muß aber nicht eintreten. Vielleicht wird er später aufgegeben zugunsten besseren Lösung, die eher unseren wirklichen Bedürfnissen entspricht. So ziehen die Tiere es dann doch vor, in der Geborgenheit der Hütte im Wald in Frieden zu leben.
 
10. „Und wenn sie nicht gestorben sind …“. Dort wo ein Märchen aufhört, fängt in der Wirklichkeit eine neue Geschichte an. Gruppen durchlaufen Prozesse, genauso wie die einzelne Person. Ist erst der Druck durch die ursprüngliche Notlage, der zusammen schweißte und persönliche Differenzen nivellierte, weg, tauchen genau diese zwischenmenschlichen Unterschiede als Themen (und vielleicht als altbekannte Konflikte) wieder auf. Auch im sogenannten Frieden warten soziale und persönliche Entwicklungsaufgaben auf uns – denn ‚wer rastet, der rostet‘, auch geistig.
 
Haben Sie Lust, für Ihre eigenen Lebensthemen nach Märchen zu suchen, deren ‚Rätsels Lösung‘ auch Ihnen weiterhilft? Die für alle Menschen typischen Themen finden sich in allen Kulturen der Welt – nicht nur bei den Brüdern Grimms, auch in den Märchen von Sibirien bis in die Südsee, in der griechischen oder keltischen Mythologie, in Dramen bei Shakespeare und Goethe. Hilfreich können auch psychologisch interpretierte Märchen sein, zum Beispiel für Frauen "Die Wolfsfrau" von Clarissa Pinkola Estés, für Paare verschiedene Bücher des Stuttgarter Paarberaters und Transaktionsanalytikers Hans Jellouschek.