Biographiearbeit


Biographiearbeit ist eine leise und langsame Angelegenheit. Daß heißt nicht, daß sie uns nicht voll fordern kann, wenn wir in die Tiefe gehen. Das Erinnern beginnt meist an der Oberfläche: "Ich bin geboren am … in …, meine Eltern waren …", wandert dann jedoch schnell hin und her zu immer neuen Personen, Themen, Orten und Erlebnissen. Dabei werden mehr und mehr längst verblaßte oder sogar vergessene Erinnerungen wieder wachgerufen (in der Psychoanalyse nennt man es "Vorbewußtes") mit all den daran gebundenen sinnlichen Eindrücken und Gefühlen. Ja, wir erinnern oft seltsame Details während uns andere verloren gingen. Da sind Szenen wie aus einem Film, sogar Gerüche und Geräusche, Tasteindrücke oder Geschmäcker und natürlich Bilder (Sehen ist meist mit starken 80 % dabei), die in diesem Moment besonders eindrücklich waren. Erinnerungen sind in einem "episodischen Gedächtnis" gespeichert, weniger in chronologischer und sachlich korrekter Abfolge wie in einem Geschichtsbuch, sondern nach persönlicher Bedeutung und emotional gefärbten Zusammenhängen. Es geht eben um diese individuelle Wirklichkeit, nicht um einen objektiven Wahrheitsgehalt. 
Unsere Erinnerung kann uns auch täuschen und Einzelheiten verändern oder neu anordnen, ihre andere Wichtigkeit zuschreiben oder sie einfach als subjektiv unwichtig fallenlassen. Daher können wir über Erinnerungen nur schlecht streiten - jede Person hat ihre eigene Geschichte im Kopf. Dieser subjektive Aspekt betrifft auch sogenannte Schemata, in denen eine ganze Reihe von Szenen zu einem einzigen Film komprimiert sind (z. B. alle Weihnachten in der Familie oder die täglichen Hausaufgaben in der Schulzeit). Je detailreicher und emotionaler wir Erinnerungen zulassen, je persönlicher wir in Anekdoten erzählen, desto mehr erleben wir diese Fülle an Eindrücken als einen inneren Reichtum, auch wenn vieles damals eher düster als schön war. Ein ‚erfülltes‘ Leben ist nicht unbedingt ein leichtes oder gelungenes ‚Wunschleben‘, sondern eben eines mit einer Fülle von emotional berührenden Erlebnissen. Wenn wir es erneut erzählen fangen wir an, es auf eine seltsame Weise ‚lieb zu gewinnen‘, das ganze Eigene, das so sehr zu uns gehört. 
Gelegentlich taucht auch Traumatisches aus dem noch tiefer verborgenen, verdrängten Unterwußten auf, was nicht unbedingt gewollt ist, da es den Menschen überfordern kann. Doch auch hier kann eine behutsam vorgehende Biographiearbeit helfen, eine höhere Akzeptanz für die Folgen zu erreichen, zum Beispiel in Gewissnheit, nicht damit allein gelassen worden zu sein. Oder in der Erfahrung, daß es anderen ähnlich erging – was vielen "Kriegskindern" rückwirkend half, dem Leben für die ‚gestohlene Kindheit‘ zu verzeihen. 
Zu den Erlebnissen der ‚Kriegskinder‘ hat Sabine Bode in den 90er Jahren eine Reihe tief nachdenklich stimmender und berührender Bücher begonnen. Das  erste davon hieß „Die vergessene Generation“, jedoch findet sich unter diesem Begriff im Internet viel weiteres Material. Auch die wissenschaftliche Forschung in Soziologie, Pädagogik, Psychologie und Geschichtswissenschaften nutzt verschiedene Ansätze biographischer Arbeit, um historische Entwicklungen nachzuvollziehen („Zeitzeugen“) oder psychologische Prozesse bei Individuen zu untersuchen. 
Biographiearbeit hat für verschiedene Menschen und ihre Anliegen eine große Bandbreite von Methoden zu bieten. Im Kern versuchen alle Ansätze dem Einzelnen zu helfen, sein Leben als Ganzes zu begreifen, es mit allem Auf und Ab akzeptieren zu lernen und daraus Kraft für die Gegenwart und für die Zukunft zu gewinnen. Das Erinnern wird angestoßen durch Anregungen, z. B. durch gezielte Fragen (z. B. Interviews, Fragebögen), durch das Betrachten von Erinnerungsstücken und Fotos, durch das Lauschen auf die Lebenserinnerungen anderer Menschen, durch Zeugnisse der Zeitgeschichte (Museen, Bücher, Filme), durch Besuche von wichtigen Orten in der eigenen Geschichte (z. B. Heimatbesuche von ehemaligen Vertriebenen), durch das Pflegen von Traditionen (z. B. über Weihnachtsbräuche, Dialekte). In anthroposophischen Kursen wird nach einem 7-Jahres-Lebensphasenschema analysiert, welche seelischen Wachstumsaufgaben in den einzelnen Phasen vollzogen wurden oder in der jetzigen Lebensphase anstehen. 
Neben dem narrativen Stil (Erzählen) haben längst auch andere ‚therapeutische‘ Techniken Einzug in die Biographiearbeit gefunden: kreative Darstellungen (Collagen, Bilder, Skulpturen), szenische Darstellungen (z. B. Psychodrama), Gruppenarbeit mit Stellvertretern (z. B. in den sogenannten  Familien- und Systemaufstellungen), Rollenspiele (z. B. zur rückwirkenden Konfliktklärung), Zeremonien (z. B. um Abschied zu nehmen). Dabei werden immer wieder Symbole für komplexe Erfahrungen und manchmal unaussprechliche Gefühle eingesetzt. Denken Sie nur einmal daran, was Ihnen alles durch den Kopf ginge, wenn Sie Ihre erste Puppe oder Ihren Teddy aus der Kindheit in der Hand hielten. Oder was alles an einem Ehering hängt … Symbole bringen höchste Ausdruckskraft ohne viele Worte. Sie transportieren tiefe Botschaften und sind verständlich auch für Menschen, die gerade wenig mit Sprache ausdrücken können, z. b. bei psychischen Erkrankungen, geistigen Behinderungen oder auch bei Sprachbarrieren. Selbst Kinder und Jugendliche können mit Biographiearbeit zu sich finden, wie es bei Adoptivkindern angeregt wird, die ihre Identität suchen bei fehlenden oder sehr konfliktbelasteten leiblichen Familienbanden. Auch ein alter Mensch mit nachlassenden geistigen Fähigkeiten eine gut gefüllte Erinnerungswelt, denn das Langzeitgedächtnis bleibt im Vergleich zum Kurzzeitgedächtnis noch lange erhalten. So können Erzählungen ‚von früher‘ wieder Orientierung und Lebendigkeit stiften. Um diese Fülle an Erinnerungsspuren zu erschließen hilft oft eine aktivitätsorientierte Erinnerungsarbeit, z. B. das Zelebrieren von traditionellen Festen, das Singen alter Lieder, selbst das Ausführen früher einmal alltäglicher Handlungen wie Handarbeiten oder Kochen. 
Wir können uns beschränken auf konkrete Themen wie die Familiengeschichte oder den beruflichen Weg, wir können aber auch den großen Wurf wagen und unser Leben als Ganzes erzählen, dabei zusätzlich den jeweiligen ‚Zeitgeist‘ und geschichtliche Zusammenhänge einbauen. Wir können die Erinnerungen leise aufsteigen lassen und bei uns behalten oder sie laut hinausrufen als Mahnmal (wie manche Maler dies z. B. mit starken Bildern ihrer Kriegserfahrungen als Kinder tun). Wir können uns damit Zeit lassen und in Etappen voranschreiten oder den Prozeß geballt und intensiv vollziehen. Dies geschieht zum Beispiel während eines Klinikaufenthaltes (dafür werden besondere Fragebögen ausgegeben) oder in einer Auszeit. 
Die Literatur mit verschiedensten Anleitungen ist umfangreich. Es lohnt sich, für den Anfang nach einem passenden Impulsgeber zu suchen (z. B. Erinnerungsbücher wie "Opa (Oma, Mutter, Tante…) erzähl doch mal") oder einem Buch mit verschiedenen Übungen, vielleicht sogar nach einer Gruppe von Mitstreitern, die ihre Erlebnisse miteinander teilen und sich gegenseitig inspirieren. An vielen Orten sind sogenannte "Erzählcafés" entstanden, wo regelmäßig in vertrauter Runde in den ganz persönlichen Erinnerungen gestöbert wird. 
Es geht um Wertschätzung für das Erlebte, die Jahre, die manchmal leise verstrichen sind und doch Inhalt hatten, und die Menschen, die kostbar waren. Auch darum, rückblickend problematische Handlungsweisen zu begreifen von Menschen, die uns das Leben schwer machten. Oder die eigenen Anteile in Konflikten zu lösen, die in der eigenen Psyche noch nicht ‚verjährt‘ sind. Verzeihen und Versöhnen sind auch langsame Prozesse und es gehört dazu, alles noch einmal wertschätzend anzuschauen. Wer am Ende Frieden schließen kann mit sich selbst und dem Leben wie es (bisher) war, auch mit den Chancen, die nicht geboten waren oder die man selbst verpaßt hat, der hat seine ‚seelischen Hausaufgaben‘ gemacht. 
Wie viele Erkenntnisse darin schlummern, die wir erst aus der ‚Vogelperspektive‘ erkennen, zeigen uns Menschen, die zuletzt ein Resümee ziehen, sozusagen einen Schlußsakkord setzen. Da entstehen Gedichte oder weise Aphorismen, Briefe an die Enkel, wenn sie mal groß sein werden, Dankesreden an Freunde, wenn sie selbst Abschied nehmen müssen. Doch keinesfalls ist Biographiearbeit nur etwas allein für den Abschied. Es bringt auch zutage, was unbedingt noch erlebt werden soll und kann. So finden viele erst nach dem bereinigenden Abschied zu dem Entschluß, es wäre jetzt endlich Zeit für einen Neubeginn. 
Mehr dazu finden Sie zum Beispiel auch in den Texten „Loslassen lernen“ oder „Übergänge“.